In guter Gesellschaft
In unserer Reihe «Im Gespräch mit» trifft unser Geschäftsführer Rolf Weber jeweils auf einen inspirierenden Gast aus der Schweizer Wirtschaft. Zusammen sinnieren sie über das Unternehmertum und tauschen sich über ihre Tätigkeiten und Gemeinsamkeiten aus. Dieses Mal steht der Sternekoch Antonio Colaianni
Rede und Antwort und erzählt erfrischend ehrlich von seinem Weg in die Spitzenküche.

Ich bin ein Genussmensch. Ich liebe es, mit guten Leuten eine gute Zeit zu verbringen. Am liebsten gepaart mit gutem Essen, gutem Wein und einer guten Zigarre zum Abschluss. Einer, der diese Kunst so zu schätzen weiss, dass er sie sich zu eigen gemacht hat, ist Antonio Colaianni. In seinen 30 Jahren als Koch wurde er mit einem Michelin-Stern und 17 Gault-Millau-Punkten ausgezeichnet und machte immer wieder mit neuen, überraschenden Gastronomiekonzepten von sich reden. Heute redet er – und darauf freue ich mich sehr. Ich bin nämlich ein grosser Fan seiner Küche und möchte die Person dahinter unbedingt besser kennenlernen.
Heute startet mein Arbeitstag also da, wo ich ihn sonst eher beenden würde. Im Restaurant. Genauer: in der Cucina Colaianni im Zürcher Freilager. Die Tische sind noch unbesetzt, aber schon für die Mittagsgäste vorbereitet. In der Küche wird bereits fleissig gekocht. Für mich ein einmaliges Restauranterlebnis. Aber darin ist Antonio ja ein Profi …
«‹Klick› gemacht hat es bei mir abends im Fine Dining. Hier entwickelte ich meine Liebe für die Art von Küche, die mich bis heute prägt.»

Rolf Weber (RW): Es gibt Leute, die kochen, um Geld zu verdienen, und solche, die kochen aus Leidenschaft. Mein grosser Bruder war auch Koch – aus so viel Leidenschaft, dass er selbst privat gerne einsprang, wenn Freunde ihn in der Küche um Hilfe baten. Wer oder was hat deine Liebe fürs Kochen entfacht?
Antonio Colaianni (AC): Obwohl meine Mutter schon immer eine ausgezeichnete Köchin war und ich manchmal für meine Geschwister kochte, entdeckte ich meine Passion fürs Kochen erst später. Als Kind hatte ich nämlich vor allem Fussball und Flausen im Kopf: In der Schule war ich schlecht, und Komplimente waren rar. Bis ich die Schnupperlehre als Koch machte. Da war ich proaktiv und habe zum Beispiel Kräuter vom Boden gewischt. Das hat die Besitzer so positiv überrascht, dass sie mir direkt eine Lehrstelle anboten. Das hat mich motiviert. In der Berufsschule war ich dann plötzlich richtig gut. Die Kochprüfung habe ich als einer der Besten abgelegt. Mündlich, schriftlich und praktisch. Nur die Allgemeinbildung fiel ab, die hat mich gelangweilt.
RW: Das ging mir genau gleich! (lacht) Was war dein nächster Schritt?
AC: Dann kamen die Wanderjahre. Ich fing in Bern an, bis ich mit meiner damaligen Freundin schliesslich im Al Portone in Lugano landete. Abends habe ich im Fine Dining gearbeitet, tagsüber überliessen sie uns den Mittagsdienst. Ich Jungkoch, und sie sprach kein Wort Italienisch – wir wurden also voll ins kalte Wasser geworfen. Doch wir brachten den Betrieb von 0 auf 100. «Klick» gemacht hat es bei mir abends im Fine Dining. Hier entwickelte ich meine Liebe für die Art von Küche, die mich bis heute prägt.
RW: Die Kochkünste deiner Mutter hast du dann auch wieder für dich entdeckt. Ihre Orecchiette dürfen auf deinem Menü nicht fehlen.
AC: Ja, seit Jahren rollt sie eine nach der anderen über den Finger und ist noch immer schneller darin als ich. Und sie liebt es. So sehr, dass ich sie bremsen musste. Pro Tag darf sie maximal ein Kilo Mehl verarbeiten. Du solltest sehen, wie sie sich über die Feedbacks unserer Gäste freut.
«Und trotzdem haben mir Sterneköche schon gesagt, dass sie niemals den Mut hätten, eine Tomatenpasta auf das Menü zu nehmen.»

«Mir darf es nie langweilig werden, sonst stehe ich morgens nicht gerne auf.»
RW: So schön, wenn man auch im Alter noch seinen Beitrag leisten kann. Wofür würdest du dich denn entscheiden: Cucina della Mamma oder Haute Cuisine?
AC: Es gibt keine Regel, aber wenn ich vor einem Teller handgemachter Pasta meiner Mutter sitze, denke ich mir jedes Mal, dass das für mich wahrer Luxus ist. Viel mehr als eine Dose Kaviar. Wie lange es braucht, bis so ein Teller fertig ist, und wie viel Befriedigung er gibt!
RW: Das muss auch weh tun – zu wissen, wie lange man dafür hatte, und dann wird der Teller in wenigen Minuten leer gegessen.
AW: Ach, daran gewöhnt man sich. Aber ich spiele auch bewusst damit. Wenn ich Kochkurse gebe, lasse ich die Teilnehmer zum Beispiel Erbsen schälen. Erstens realisieren sie dann, wie schön grün diese unter dem Häutchen leuchten, vor allem aber verstehen sie plötzlich, wie viel Arbeit in einzelnen Gerichten stecken kann.

RW: Hast du ein Beispiel?
AW: An «Kitchenpartys» werden oft meine Orecchiette mit Tomatensauce und Polpettine gewünscht. Das Gericht besteht aus einer Tomatensauce, die acht Stunden kocht. Dazu kommen konfierte Tomaten – das sind kleine Datterini-Tomaten, die du blanchieren, schälen, marinieren und im Ofen trocknen musst. Dann die Orecchiette, wo man für ein Kilo zweieinhalb Stunden braucht. Dann kommen die Polpettine, die man von Hand zu kleinen Bällchen formt. Und zum Schluss noch der weisse Tomatenschaum. Das Gericht ist mit Abstand das aufwendigste der ganzen «Kitchenparty». Und trotzdem haben mir Sterneköche schon gesagt, dass sie niemals den Mut hätten, eine Tomatenpasta auf das Menü zu nehmen.
RW: Über die vergangenen 20, 30 Jahre hast du immer wieder aufs Neue auf dich aufmerksam gemacht. Du hast unter anderem dem «Ornellaia» an der Zürcher Bahnhofstrasse deine persönliche Note verpasst, warst als Störkoch an Events unterwegs, hast Pop-up-Projekte umgesetzt und Kochkurse gegeben. Dir wird es nie langweilig. Du bist offenbar hungrig nach neuen Ideen. Wann kam die Idee mit dem Freilager?
AW: Mir darf es nie langweilig werden, sonst stehe ich morgens nicht gerne auf. Vor einem Jahr habe ich hier im Freilager ein Pop-up mit Freunden gemacht. Danach hatte ich zwei, drei Projekte im Kopf, die aber ins Wasser fielen. Und dann kam Marco (Però) auf mich zu und bot mir an, mit ihm fix das Restaurant Freilager zu übernehmen. Nach zwei Flaschen Wein wusste ich: Das ist es.
«Heute picke ich mir die Rosinen heraus.»

RW: Hier macht ihr jetzt etwas eher Ungewöhnliches: Ihr vereint zwei Konzepte unter einem Dach, die Trattoria und die Cucina Colaianni. Wie kam es dazu?
AC: Ich habe darauf gepocht, dass wir ein italienisches Konzept fahren. In der Trattoria soll es simple, aber richtig gute Pizzen und Tavolate geben. Und hinten führen wir von Donnerstag bis Samstag ein Gourmet Restaurant. Der Name «Cucina Colaianni» kommt davon, dass die Gäste in meiner Küche sitzen und mir beim Kochen zuschauen können. Der persönliche Kontakt macht es aus. Mit dieser Küche bin ich aber auch flexibel für Beratungen, neue Konzepte, Kochkurse. Sagen wir’s so: Heute picke ich mir die Rosinen heraus. Klar, ich krampfe wie eh und je, aber ich mache das, was mir Spass macht.
RW: Könntest du dir vorstellen, etwas ganz anderes zu tun als zu kochen?
AC: Wahrscheinlich müsste es auch mit dem Thema Genuss verbunden sein. Mit Wein, Zigarren und Lebensmitteln kenne ich mich sehr gut aus. Beratungen in diese Richtung könnte ich mir gut vorstellen. Aber ganz vom Kochen komme ich nicht weg. Selbst wenn ich mir im Urlaub vornehme, mal nicht zu kochen, laufe ich durch Märkte und kann nicht anders, als inspiriert und mit vollen Tüten zurückzukehren und für alle zu kochen. Auch nach 30 Jahren ist und bleibt es mein Hobby.
RW: Genuss ist ja auch das Thema dieser Ausgabe. Was bedeutet Genuss für dich?
AC: Genuss kann eine Zigarre oder eine Flasche Wein mit guten Freunden oder ein Teller Pasta oder ein Pouletflügeli mit der Familie sein – Hauptsache, gut. Genuss ist für mich etwas Gemeinsames: mit Leuten zelebrieren und miteinander geniessen